Montag, 27. Februar 2017

Die Nachbarin

Neulich hat mich meine Nachbarin am Gang erwischt. Ich habe sie an der Haustüre freundlich gegrüßt und bin mit ihr ein paar Schritte zum Lift spaziert, bevor ich wie immer in meiner Wohnung verschwinden wollte.

"Wissen Sie eigentlich wie alt ich bin?", fragt mich die kleine Frau und schaut mich herausfordernd an. Diese Frage stellt sie mir seit ich vor fünf Jahren eingezogen bin beinahe jedes Mal, wenn ich sie zufällig sehe, und jedes Mal entfällt mir ihr Alter wieder.
"Zweiundneunzig", antwortet sie da schon selbst und streckt fast triumphierend die Hand in die Höhe, in der sie ihren Schlüssel hält. "Und wissen's...", fährt sie fort und kommt langsam auf mich zu, "wenn man einmal so alt ist und allein ankommt...."

Und eigentlich habe ich gar keine Lust auf Smalltalk zwischen Tür und Angel, und eigentlich schiele ich schon heimlich nach meiner Wohnungstür, will meine Einkäufe verstauen und weiter arbeiten, aber dann denke ich mir plötzlich: Das könnte meine Oma sein. Oder ich in einigen Jahren, wenn ich jemals so alt werde. Also bleibe ich stehen und höre einfach nur zu, beschränke mich auf verständnisvolles Nicken und soziales Grunzen in Form von mhm, aha, natürlich. Mehr braucht es aber auch nicht.

Sie erzählt von ihrem Mann, und dass sie eine gute Ehe gehabt hätte, 56 Jahre lang. Seit 11 Jahren ist er nun schon "unter der Erde", aber so ganz gewöhnt hat sie sich immer noch nicht daran. Gleichzeitig sagt sie, dass sie sich ja nicht beklagen darf, weil es ihr im Gegensatz zu anderen immerhin finanziell gut gehe. Und dann erzählt sie - lautstark, weil sie selbst ja nicht mehr so gut hört - vom Streit mit der Nachbarin, die sie eine "alte Hexe" genannt hat, und da will ich mich erst recht nicht einmischen, aber ich sehe die Tränen in ihren Augen und bleibe, versuche zu beruhigen und zu beschwichtigen.

Wir stehen da sicher eine Viertelstunde, wenn nicht länger, und als sie am Ende ihrer Erzählungen angekommen ist, bedankt sie sich tausendfach. Dafür, dass ich einfach nur dagestanden bin und zugehört habe. "Man muss zufrieden sein", sagt sie. "Aber das können nicht alle. Meine Mutter, die hat sich umgebracht als sie 89 war." Und noch bevor ich schockiert darauf antworten kann grinst sie, fast ein bisschen verschmitzt. "Aber ich nicht!", sagt sie. "Ich warte hier, bis es soweit ist."

Ich schaue ihr nach, wie sie mit hoch erhobenem Kopf zum Lift spaziert, und ich kann nicht anders, ich muss diese kleine, große Persönlichkeit einfach bewundern und  mir eingestehen, dass mir dieses unfreiwillige Gespräch wahrscheinlich  genausoviel gegeben hat wie ihr.

1 Kommentar:

  1. ...ich liebe diesen Eintrag, die Geschichte dahinter. Vielleicht sollte ich Dir mal sagen, wie oft ich ihn lese.
    Für Deine Nachbarin hast Du durchs Zuhören ihren Alltag bereichert. Für mich, die hier liest, rückst Du so manches wieder in Ordnung. Nicht direkt in meiner Realität, aber Wirklichkeit ist ja bekanntlich viel mehr.

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